Cover
Titel
Restricted Data. The History of Nuclear Secrecy in the United States


Autor(en)
Wellerstein, Alex
Erschienen
Anzahl Seiten
528 S.
Preis
$ 35.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Barbara E. Hof, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Zusammen mit den ersten Atomwaffen entstand die Kontroverse um Zweck, Strategien und Folgen der Geheimhaltung des für den Bombenbau grundlegenden Wissens. „Restricted Data” von Alex Wellerstein vermittelt fundierte Kenntnisse über die institutionalisierte Geheimhaltung in den USA von den 1940er-Jahren bis heute und verdeutlicht, wie die Erfindung der Atomwaffentechnologie den nationalen Sicherheitsdiskurs des Landes entscheidend prägte. Dargestellt werden Akteur:innen aus Politik, Wissenschaft und Militär, die in ihrem Zusammenspiel ein Sicherheitsregime schufen, das bis heute Bestand hat und angesichts der nach wie vor potenziellen Bedrohung durch Atomkriege sicherlich in Zukunft fortbestehen wird.

Wellerstein geht von der These aus, dass die Geheimhaltung eigentlich dem demokratischen Staatsideal der USA zuwiderläuft und daher die Kritik am Sicherheitsregime sowie unterschiedliche Auslegungen von nationaler Sicherheit als zwei wichtige Aspekte der Nukleargeschichte zu begreifen sind. Diese Argumentationslinie entwickelt Wellerstein in drei Teilen. Der erste Teil befasst sich mit den Anfängen der Geheimhaltung im Zweiten Weltkrieg. Im Mittelpunkt steht das Manhattan-Projekt zum Bau der ersten Atomwaffen. Ein wichtiger Befund Wellersteins ist, dass es in den USA zunächst keine spezifische gesetzliche Grundlage zur Geheimhaltung dieses Vorhabens gab, was die Selbstzensur innerhalb der Wissenschaftscommunity notwendig machte. Wellerstein verdeutlicht anhand einer statistischen Analyse von Veröffentlichungen, wie ein sensibler Bereich der Wissensproduktion – die Atomphysik als ein von Naturwissenschaftler:innen stark nachgefragtes und erforschtes Gebiet – abrupt aus der Öffentlichkeit verschwand, was von aufmerksamen Zeitungsreporter:innen aber durchaus bemerkt worden sei, weshalb die Verantwortlichen des Manhattan-Projekts gezielt Falschinformation streuten.

Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Selbstzensur von Fremdkontrollen des Militärs abgelöst und das Sicherheitsregime sukzessive ausgebaut. Im Anschluss an den kriegerischen Einsatz von Atomwaffen gegen Japan im August 1945 wurde die US-amerikanische Öffentlichkeit erstmals über das Manhattan-Projekt informiert. Der Publikation des Smyth-Reports, der zahlreiche technische Hintergründe des Projekts darlegte, und den Spannungen zwischen militärischen Interessen einerseits und der öffentlichen Rechtfertigungspflicht andererseits räumt Wellerstein viel Platz in seiner Darstellung ein. Ebenfalls ausführlich dargelegt wird, wie verschiedene Gesetzesvorschläge zur Regelung sensibler Wissensbestände diskutiert wurden und wie das Bestreben einer internationalen Regulierung der Kernenergienutzung in der unmittelbaren Nachkriegszeit kläglich scheiterte. Drei „Schocks“ macht Wellerstein 1949 fest, die die US-Regierung erschütterte und verschärfte Kontrollen an den Nuklearforschungsbetrieben nach sich zogen: Der erste Schock folgte dem ersten erfolgreichen sowjetischen Atomwaffentest, der zweite wurde ausgelöst durch den Entscheid zum Bau von thermonuklearen Bomben als eines vielfach potenteren Waffentypus. 1949 wurde zudem der Spionagering um die populäre Figur von Klaus Fuchs aufgedeckt, mit dessen Hilfe sich die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg das in den „Geheimstädten“ des Manhattan-Projekts produzierte Wissen angeeignet hatte. Wellerstein verortet die Informationsweitergabe in Kontext des drastischen Ausbaus des inneramerikanischen Sicherheitsregimes.

Die Passagen über die unmittelbare Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sind im Vergleich zu den späteren Epochen fast zu detailliert geraten. Während sich der zweite Teil den 1950er-Jahren annimmt und zeigt, dass Angst nicht nur Ausgangspunkt und treibende Kraft zum Ausbau des Regimes zur Sicherung sensibler Daten war, sondern zu Beginn des Kalten Kriegs in Angstmacherei umschlug, umfasst der dritte Teil einen relativ langen Zeitraum (1964-1991). Darin leuchtet Wellerstein noch wenig bekannte Entwicklungen aus. Im Zentrum des dritten Teils stehen die Zentrifugaltechnologie und Fusionsreaktoren und die damit verbundenen umstrittenen Interessen an der Schnittstelle von ziviler und militärischer Nutzung. An solchen Beispielen wird deutlich, dass die Geheimhaltung auch Mittel war, um andere Nationen daran zu hindern, ihre eigene Forschung und Entwicklung voranzutreiben.

Weit über den Fall der Sowjetunion hinaus sind Wissensbestände, die die Produktion von Atomwaffen ermöglichen, gut gehütet, teils aufgedeckt und öffentlich umstritten. „Restricted Data” bietet ein lehrreiches Überblickswerk zu den Geheimhaltungsstrategien der USA. Es stellt an eingängigen Beispielen und neu zugänglich gemachten brisanten Quellen wichtige Entwicklungen heraus. Wellerstein erweitert gekonnt den Forschungsstand1, schlägt dabei aber keine grundsätzlich neuen analytischen Perspektiven oder Auslegungen vor. Im Fokus stehen institutionelle Entscheidungsprozesse und führende Persönlichkeiten. Dadurch blendet „Restricted Data” Praktiken und Personen aus, die für die Geheimhaltung von schützenswertem Wissen ebenfalls wichtig sind, wie etwa die Arbeit von Sekretär:innen und Kurier:innen.2 Darüber hinaus lässt die US-zentrierte Untersuchung offen, wo die Grenzen der Geheimhaltung lagen. Inwiefern NATO-Mitgliedstaaten eingeweiht wurden oder wie sich Sicherheitsüberlegungen in die 1957 gegründete internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) speisten, zeigt „Restricted Data” nicht. Am Beispiel der USA gelingt es Wellerstein aber, die Problematik der öffentlichen Rechtfertigung von Sicherheitsmaßnahmen in demokratisch regierten Staaten zu verdeutlichen. Es ist nicht zuletzt auch den hartnäckigen Vorstößen von Historiker:innen wie Wellerstein zu verdanken (vgl. S. 509f.), dass lange unter Verschluss gehaltene Akten freigegeben werden und die Geschichte der US-amerikanischen Geheimhaltungspolitik weiter aufgearbeitet werden kann.

Anmerkungen:
1 Den Beginn der Aufarbeitung der US-amerikanischen Nuklearpolitik und des als notwendig erachteten Sicherheitsregimes machte ein von der Atomenergiebehörde (AEC) beauftragtes Projekt: Richard G. Hewlett / Oscar E. Anderson, A History of the United States Atomic Energy Commission, Vol I: The New World, 1939/1946, University Park PA 1962; Richard G. Hewlett / Francis Duncan. A History of the United States Atomic Energy Commission, Vol II: Atomic Shield, 1947–1952, s.l. 1972; Richard G. Hewlett / Jack M. Holl, A History of the United States Atomic Energy Commission, Vol III: Atoms for Peace and War, 1953–1961. Eisenhower and the Atomic Energy Commission, Berkeley 1989. Wellerstein stützt seine Arbeit auf einige Akten, die ihm aufgrund von Freedom of Information Act (FOIA) Requests zugänglich gemacht wurden.
2 Für die Rolle von Kurierfahrer:innen siehe zum Beispiel Lindsey A. Freeman, Longing for the Bomb. Oak Ridge and Atomic Nostalgia, Chapel Hill 2015.

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